Im Zweifel mit dem Stärkeren: Die Vereinten Nationen in Syrien

UN Basisstation in Quneitra, Golanhöhen , Syrien
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UN Basisstation in Quneitra, Golanhöhen , Syrien

Die Humanitäre Hilfe in Syrien wurde nicht dort geleistet, wo sie am meisten gebraucht wurde, sondern dort, wo das Regime sie zulässt. Die Vereinten Nationen scheinen sich den Bedingungen des syrischen Regimes untergeordnet zu haben.

Vernichtend fällt der Bericht „Taking Sides“ aus, in dem The Syria Campaign untersucht hat, wie weit sich die Vereinten Nationen in ihrem Engagement in Syrien von ihren Grundsätzen der Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und Neutralität entfernt hat. Der Bericht, der jetzt auch auf Deutsch vorliegt, basiert auf Interviews mit amtierenden und ehemaligen UN-Mitarbeiter/innen, mit NGO-Vertreter/innen und legt detailliert dar, in welchem Ausmaß sich die Vereinten Nationen den Bedingungen des syrischen Regimes untergeordnet haben, ohne die eigene Kompromissbereitschaft je in Frage zu stellen.

Humanitäre Hilfe in Syrien durch die UN wird nicht dort geleistet, wo sie am meisten gebraucht wurde, sondern dort, wo das Regime sie zulässt – in den von ihm selbst kontrollierten Gebieten. Diese Willfährigkeit der UN beruht darauf, dass die einzelnen UN-Organisationen sich nicht auf ein gemeinsames Vorgehen einigen können und einige von ihnen von Anfang an vehement dagegen waren, gegenüber dem Regime eine härtere Gangart einzuschlagen. Das syrische Regime hatte gedroht, Organisationen, die auch in Rebellengebieten aktiv sind, auszuweisen. Zumindest eine Organisation, Mercy Corps, hat daraus die Konsequenz gezogen und ihre Arbeit in den Regimegebieten beendet. Bei der UN, über die Milliarden in das Land fließen, ist jedoch höchst fraglich, ob das Regime sich diesen quasi einzigen Weg, Gelder von außen legal ins Land zu bringen, selbst versperren würde.

Gerade die deutsche Unterstützung für Syrien ist ein gutes Beispiel dafür, dass es möglich ist, sowohl innerhalb als auch außerhalb der vom syrischen Regime kontrollierten Gebiete zu arbeiten. Mit mehr als 1,3 Milliarden Euro ist Deutschland der drittgrößte bilaterale Geber. Neben den Geldern, die über die UN umgesetzt werden, arbeitet Deutschland explizit auch im Norden des Landes, wo es beispielsweise Bäckereien unterstützt.

Der Krieg hat Syrien auch in eine wirtschaftliche Krise gestürzt. Es ist immer schwieriger geworden, seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Wenn es dem syrischen Regime also gelingt, die internationalen Hilfen auf sein Gebiet zu beschränken, dient ihm dies, um der Bevölkerung zu signalisieren: wir tun etwas für euch, solange ihr unter unserer Herrschaft steht – ohne uns seid ihr verloren. Es ist also hoch politisch, wohin humanitäre Hilfe geht und an wen sie wie verteilt wird. Und doch hat die UN noch nicht einmal ansatzweise versucht, sich dem entgegenzustellen. Ganz im Gegenteil: Ein UN-Vertreter erklärte, die UN habe schon die Zahl der Anträge auf Hilfslieferungen möglichst klein gehalten, um „die Regierung nicht zu verärgern.“

„Taking Sides“ schlüsselt auf, dass zeitweise 99 Prozent der UN-Hilfen in Syrien in Regime-Gebieten geleitet und dort auf intransparente Art und Weise verteilt wurden. „Über Hilfslieferungen innerhalb des Landes wird in Verhandlungen der UN mit der syrischen Regierung entschieden,“ heißt es in dem Bericht, „Aber die syrische Regierung weiß, dass die Verweigerung des humanitären Zugangs in Gebiete außerhalb ihrer Kontrolle nicht sanktioniert wird.“ Das hat dem Regime ermöglicht, Hunger als Kriegswaffe einzusetzen.

Eine Million Menschen leben unter Belagerung.  85 Prozent aller in Syrien belagerten Zivilisten werden ausschließlich durch das Regime belagert, und alle der bislang dokumentierten 414 Hungertoten sind hier zu beklagen. Weitere 14 Prozent werden unter Beteiligung des Regimes belagert, in Deir Ezzor, wo das Regime der äußeren Belagerung durch ISIS eigene Restriktionen von innen entgegensetzt, und bis heute die Nutzung eines Hubschrauberlandeplatzes für die humanitäre Versorgung blockiert.

Was Belagerung heißt, kann man in einem 2014/2015 von Mattar Ismael gedrehtem Dokumentarfilm „Love during the siege“ aus Yarmouk sehen: Die Mutter kocht Radieschenblätter und Salatreste mit etwas Butterschmalz, einem in Syrien zum Kochen verwendeten Fett. „Das Fett, hast du es im Müllcontainer gefunden oder daneben?“ – „Im Container.“ … „Vorsicht, du hast seit drei Monaten kein Fett mehr gegessen.“ … „Ich habe Kartoffelschalen mitgebracht. Wir kochen sie, so wie wir es früher gemacht haben.“ – „Hast du diejenigen gesegnet, die sie weggeworfen haben?“ – „Gott wird sie segnen.“

Dass das Regime im Februar in Genf „grundsätzlich“ humanitärer Versorgung zustimmte – als „Geste des guten Willens“ gefeiert –, ist nicht neu und vor allem nicht als ein generelles OK zu verstehen. „Grundsätzlich“ hatte es auch 2015 27 Hilfslieferungen zugestimmt, von denen jedoch letztlich noch nicht einmal die Hälfte tatsächlich stattgefunden haben. Oftmals hat die UN das mit der Sicherheitslage begründet, doch der Bericht zeigt, dass diese „eher aus politischen und strategischen Gründen als aus Sicherheitsgründen“ nicht erfolgten: „UN-Konvois sind sogar durch belagerte Gebiete gefahren, um andere Orte zu erreichen,“ heißt es hier – auch bestätigt durch den UN-Sonderberater Jan Egeland.

Die Weltgesundheitsorganisation hat sich dem syrischen Regime gefügt, als dieses zu verhindern versuchte, dass der Ausbruch von Polio publik wurde, was die frühzeitige Bekämpfung verhinderte. Um jeden Hilfskonvoi, geradezu um jeden LKW, der belagerte Gebiete erreichen muss, ist es ein zähes Ringen. Besonders dramatisch war dies im Falle Darayas, das seit 2012 belagert wird und in das dieses Jahr erstmals ein Hilfskonvoi kommen sollte. Trotz der Genehmigung aus Damaskus wurde der Konvoi am Regime-Checkpoint zunächst zurückgewiesen und musste unverrichteter Dinge wieder abfahren. Obendrein wurden die in Daraya Wartenden vom Regime bombardiert. Auch als einige Tage später eine Handvoll LKWs schließlich doch durchgelassen wurden, verzögerte sich die Verteilung der Hilfen, weil das Regime nur Stunden später ein tagelang andauerndes Bombardement begann.

Kurz schien es, als sei ein von europäischen Abgeordneten unterzeichneter Aufruf erfolgreich gewesen, belagerte Gebiete aus der Luft zu versorgen, sollten weiterhin Hilfslieferungen auf dem Landweg verweigert werden. Bei einem Treffen im Mai verständigten sich die Mitglieder der International Syria Support Group auf Versorgungsflüge, sollte sich bis zum 1. Juni keine Veränderung einstellen. Als die Frist verstrichen war, ruderte die UN jedoch schnell zurück: auch Luftversorgung ginge nur mit einer Genehmigung des Regimes.
Die Kurzfassung und die Empfehlungen des Reports sind von 56 syrischen Organisationen, die sich im humanitären oder medizinischen Bereich engagieren, unterzeichnet, unter anderem von Dawlaty oder Women Now for Development, mit denen die Heinrich-Böll-Stiftung regelmäßig zusammenarbeitet.  

Sie fordern die UN auf, unverzüglich Kriterien festzulegen, wie sie mit dem syrischen Regime kooperieren und zugleich ihre humanitären Grundsätze wahren könne. Die gleiche Forderung richten sie an die Geberstaaten, deren Unterstützung hierfür unbedingt notwendig ist – aber auch im eigenen Interesse wäre. „Ein UN-Einsatz, der Kernprinzipien verletzt, wird zu einem Teil des Konfliktes und ist ein Nährboden für fortwährende Gewalt.“

 

"Love during the Siege", ein Dokumentarfilm von Bidayyat for Audiovisual Arts, wurde 2016 mit dem Samir Kassir Preis für Pressefreiheit ausgezeichnet.

Love During The siege/ حب في الحصار - Bidayyat

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Bericht „Taking Sides“ von The Syria Campaign

Der Bericht „Taking Sides“: Die Abkehr der UN von Unparteilichkeit, Unabhängigkeit und Neutralität kann hier herunter geladen werden:

Inhalt:

  • Kurzfassung
  • Methode
  • Empfehlungen
  • Einleitung: Die politisierte Rolle von Hilfe im Syrienkonflikt
  • Die Geschichte von Daraa:  Wie alles begann
  • Die Abkehr der UN von Unparteilichkeit in Syrien
  • Die Abkehr der UN von Unabhängigkeit in Syrien
  • Die Abkehr der UN von Neutralität in Syrien
  • Anhang

Übersetzt aus dem Englischen von Brandie Podlech in Kooperation mit der Heinrich-Böll-Stiftung – Büro Mittlerer Osten, Beirut